Cyberkriminalität und -grooming "White Tiger": Was Kinder gefährdet – und Eltern oft übersehen

Ein Hamburger soll weltweit Kinder bis in den Tod getrieben haben. Ein Ermittler schildert, wie der mutmaßliche Täter im Internet vorgegangen ist – und was Eltern wissen müssen.
Ein 20-jähriger Mann aus Hamburg steht im Verdacht, über Jahre schwerste sexualisierte Gewalt an Kindern im Internet verübt zu haben. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem Mord, versuchten Mord, sexuellen Missbrauch sowie den Besitz und die Verbreitung kinderpornografischen Materials vor.
Der Beschuldigte soll unter dem Pseudonym "White Tiger" gezielt psychisch labile Kinder in sozialen Netzwerken und Spieleplattformen kontaktiert, manipuliert und zu selbstverletzendem Verhalten und sexuellen Handlungen gedrängt haben – teils unter massiver Drohung. In einem besonders tragischen Fall soll er einen 13-jährigen Jungen aus den USA dazu gebracht haben, sich zu töten. Mehr dazu lesen Sie hier.
Ermittler in Hamburg haben mittlerweile mehr als 85.000 Dateien gesichtet, darunter Videos, Chatverläufe und andere digitale Spuren. Auch Björn Gebauer vom Landeskriminalamt war Teil der Soko "Mantacore". Er kennt die Abgründe hinter den Akten. Und er hat einen Appell an alle Eltern, die glauben, so etwas könne dem eigenen Kind nicht passieren.
Täter geben sich als Gleichaltrige aus
"Viele von Ihnen haben Kinder – ich auch", sagte Gebauer auf der gemeinsamen Pressekonferenz von Staatsanwaltschaft und Polizei. "Und ich sehe, wie schnell das geht. Wie arglos sie sind." Die Täter, sagte er, kontaktieren Kinder über die Chatfunktionen in sozialen Netzwerken und Spiele-Apps. Alles, was Kommunikation ermöglicht, kann zur Falle werden.
Der Kontakt wirkt zunächst harmlos, freundlich, verständnisvoll. "Die Täter geben sich als gleichaltrige Mädchen oder Jungen aus. Sie machen Komplimente, fragen nach dem Alltag und bauen Vertrauen auf." Viele der Kinder sind in der Pubertät, haben psychische Schwierigkeiten oder fühlen sich einsam. Sie reagieren auf Aufmerksamkeit. "Das erste 'Ich liebe dich' kam im Extremfall nach vier Minuten", berichtete Gebauer.
Ein System aus Belohnung und Erpressung
Wer einmal im Netz der Täter ist, kommt schwer heraus. "Es beginnt mit harmlosen Fotos. Dann kommen freizügigere Bilder. Schließlich Videos – nackt, mit sexuellen Handlungen." Die Täter arbeiten mit Belohnungen, lassen Kinder glauben, sie seien Teil einer besonderen Gruppe, lassen sie "aufleveln".
Doch dann kommt die Drohung. "Wer nicht mitmacht, dem wird angedroht, die Bilder zu veröffentlichen – an Eltern, Mitschüler, Lehrer." Die Täter sind vorbereitet. Sie sammeln Informationen, suchen sich gezielt Opfer mit geringem sozialem Rückhalt. Und sie treiben die Kinder weiter. Bis zur Selbstverletzung, zur Gewalt an Haustieren und in die Verzweiflung.
Rückzug, heimliches Verhalten, unerklärliche Geschenke
"Die Kinder waren allein. Es war niemand da, der merkte, dass sie nachts mit Fremden chatteten", sagte Gebauer. Oder es fiel auf – aber niemand erkannte den Ernst der Lage. Dabei gäbe es Warnzeichen: Rückzug, heimliches Verhalten, unerklärliche Geschenke, Verletzungen bei Haustieren. Doch oft werde weggesehen.
Björn Gebauer appellierte an alle Eltern: "Bleiben Sie im Kontakt. Auch, wenn die Kinder älter werden. Auch, wenn sie sich abkapseln. Interessieren Sie sich." Kontrolle sei bei kleinen Kindern sinnvoll – später zähle vorrangig die Beziehung, die Offenheit, das Vertrauen. "Wenn Sie etwas Verdächtiges bemerken, reagieren Sie nicht mit Vorwürfen. Strafen und Internetverbot helfen nicht. Das Kind muss sich öffnen können."
Und wenn der Verdacht besteht? "Dann: Beweise sichern. Polizei oder Beratungsstellen einschalten. Und nicht schweigen."
Was Eltern wissen müssen und wie sie reagieren sollten:
Warnzeichen ernst nehmen:
- heimliches oder nächtliches Onlineverhalten
- unerklärliche Geschenke (Gutscheine, Pakete)
- Verletzungen bei Kind oder Haustier
- Verändertes Verhalten, Rückzug, Stimmungsschwankungen
Richtig reagieren:
- keine Vorwürfe machen, ruhig bleiben
- Gespräch suchen, zuhören
- Inhalte sichern (Screenshots, Chatverläufe)
- Hilfe bei Polizei und Beratungsstellen holen
Kontakt und Prävention:
- Interesse zeigen, Fragen stellen
- Vertrauen aufbauen – nicht nur kontrollieren
- Kindern Medienkompetenz vermitteln
- Aufklären: Wer ist wirklich am anderen Ende?
Wenn Sie an Suizid denken oder sich um eine nahestehende Person sorgen, können Sie sich jederzeit an die Telefonseelsorge wenden. Die Beratung ist anonym, kostenfrei und rund um die Uhr erreichbar – unter 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222.
- Eigene Recherche
- Besuch der Pressekonferenz der Polizei Hamburg vom 18. Juni 2025
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