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Gezielte Kontrollen in Hamburg: Werden Arme im Nahverkehr stärker kontrolliert?


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Fahrkarten im Nahverkehr
Werden Arme in Hamburg stärker kontrolliert als der Rest?


Aktualisiert am 22.01.2023Lesedauer: 5 Min.
Abgangskontrolle an der Station Sternschanze: Im Jahr 2019 wurden in Hamburg 8.483 Verfahren wegen "Beförderungserschleichung" eingeleitet.Vergrößern des Bildes
Abgangskontrolle an der Station Sternschanze: Im Jahr 2019 wurden in Hamburg 8.483 Verfahren wegen "Beförderungserschleichung" eingeleitet. (Quelle: Jannis Große)

An den Kontrollen im Hamburger Nahverkehr gibt es scharfe Kritik: Sie sollen vor allem Ärmere treffen. Verschiedene Gruppen setzen Kreativität dagegen.

Jeden Tag fahren knapp zwei Millionen Menschen im Großraum Hamburg mit Bussen, Fähren, U- und S-Bahnen zur Arbeit, zur Ausbildung, zum Amt oder einfach von A nach B. Wer Bahnsteig oder Bus verlässt, wird dabei manchmal fast überfallartig von bis zu 30 Uniformierten abgefangen: "Die Fahrkarten bitte." Immer wieder führen die Verkehrsbetriebe solche Kontrollen durch.

Die sogenannten Abgangskontrollen sind seit Jahren gängige Praxis und werden schwerpunktmäßig an bestimmten Haltestellen durchgeführt, wie die Antworten auf Kleine Anfragen in der Hamburger Bürgerschaft belegen. Kritiker sagen: Die Kontrolleure haben es dabei besonders auf die Armen abgesehen.

Im Jahr 2022 waren davon vor allem die Stationen Barmbek (29), Wandsbek Markt (24), Billstedt (24), Veddel (23), Altona (22), Wilhelmsburg (21), Harburg (20), Reeperbahn (20) und Niendorf Markt (15) betroffen. Der HVV schreibt auf Anfrage, dass Fahrkartenkontrollen vor allem zum Ziel hätten, möglichst alle Fahrgäste von der Notwendigkeit eines gültigen Tickets zu überzeugen.

Hamburg: Schwerpunkte der HVV-Kontrollen stehen in der Kritik

"Regelmäßige Kontrollen und die Präsenz von Personal erhöhen zudem das subjektive Sicherheitsempfinden der Fahrgäste", schreibt Pressesprecherin Silke Seibel. Wo kontrolliert wird, entscheide sich nach "Fahrgastaufkommen, Rückmeldungen vom Fahrpersonal, Beschwerden von Kund*innen" und der Erfahrung aus vergangenen Kontrollen.

"Seit Jahren finden auf der Veddel und in Wilhelmsburg mehr HVV-Kontrollen als an anderen und wesentlich größeren Bus- und Bahnstationen statt", kritisiert Heike Sudmann, verkehrspolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Bürgerschaft. "Zu Recht kritisieren Menschen auf der Veddel und aus Wilhelmsburg die unverhältnismäßig häufigen Kontrollen", sagt Sudmann weiter. Auch in weiteren Stadtteilen mit hohen Armutsquoten würde häufiger kontrolliert werden als dort, wo das Einkommen höher ist, betont die Abgeordnete.

"Das ist schlicht eine Schweinerei und eine Gemeinheit"

"Dass der HVV seine Kontrollen auf die Stadtteile fokussiert, wo besonders viele Leute sich die Fahrscheine einfach nicht leisten können, das ist schlicht eine Schweinerei und eine Gemeinheit", findet Christoph Kleine von der Interventionistischen Linken Hamburg (IL). Bereits im Dezember demonstrierte die Gruppe gegen die ständigen Kontrollen. "Der HVV und der Hamburger Senat müssen dafür sorgen, dass Mobilität ein Recht für alle wird – und nicht nur für die, die sich ein Auto leisten können", sagt Christoph Kleine zu t-online. "Wenn Menschen ohne Fahrschein fahren, dann ist das eine Form von sozialer Notwehr, die unsere Unterstützung hat", sagt Kleine.

Beim Hamburger Verkehrsverbund ist ein gültiger Fahrschein hingegen "Ehrensache", wie Aufkleber in S-Bahnen vermitteln wollen. Oder wie es Anna-Theresa Korbutt, Geschäftsführerin des HVV, formuliert: "Ticketkontrollen sind für mich ein Fairnessfaktor. Fairness für alle, die zahlen. Fairness für das System." Auf einer Podiumsdiskussion vom Bündnis "9-Euro-Ticket forever" führt Korbutt Anfang Januar aus: "Natürlich gibt es Menschen, die das Geld einfach nicht haben – aber da würde ich sagen, sind unsere Prüfdienste dann schon sehr kulant".

15.800 Fahrgäste an einem Tag in Hamburg kontrolliert

Aktuell sei das Ziel im HVV, die Quote der Fahrgäste ohne Fahrschein durch Kontrollen zu senken, heißt es in der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken im Dezember. Die Zahl der Menschen ohne Fahrschein sei durch die reduzierten Kontrollen während der Coronapandemie angestiegen. Zum Vergleich: In den Jahren 2011 bis 2018 schwankte die Quote der Kontrollierten ohne gültigen Fahrschein zwischen 3,5 und fünf Prozent. Bei den Abgangskontrollen in Veddel lag die Quote 2022 bei rund acht Prozent. Genau dort fand Ende September letzten Jahres auch eine Schwerpunktaktion von Betriebsbeginn bis -ende statt, bei der 15.800 Fahrgäste kontrolliert wurden.

Sudmann fordert den HVV dazu auf, die Kontrollen einzustellen, die Menschen aus bestimmten Stadtteilen unter den Generalverdacht des Fahrens ohne Fahrschein stelle. Auch die Sozialinitiative "Hamburg traut sich was", findet es falsch, Menschen zu kriminalisieren, die sich kein Ticket leisten können. Im Jahr 2019 wurden in Hamburg 8.483 Verfahren wegen "Beförderungserschleichung" eingeleitet, 707 Personen wurden zu Geldstrafen verurteilt, 15 Personen zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung und zwei Personen zu einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Seit 2011 haben außerdem mehr als 1.200 Menschen in Hamburg eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßt.

Gruppen organisieren Fonds, der Strafen zahlt

"Es ist ein Irrsinn, Menschen das Leben nochmal schwerer zu machen, die sowieso schon in einer sozialen Notlage sind, indem man ihnen ein Strafverfahren aufzwingt", sagt Erik Horn von 'Hamburg traut sich was". Der HVV schreibt auf Anfrage, ihm würden in Hamburg pro Jahr zweistellige Millionenbeträge durch Personen ohne gültige Fahrkarte entgehen. Wie viel die Kontrollen pro Jahr kosten, wollte der HVV nicht sagen. "Trotz der hohen Einnahmeverluste gehen die Verkehrsunternehmen stets mit Augenmaß vor, bevor sie im Wiederholungsfall von der rechtlichen Möglichkeit einer Strafanzeige Gebrauch machen", stellt Pressesprecherin Seibel klar.

Auf das Augenmaß wollen viele nicht vertrauen. Längst haben sich solidarische Strukturen gegen Ticketkontrollen etabliert. In großen Telegram-Gruppen warnen sich Menschen in Hamburg seit Jahren gegenseitig vor Kontrollen. Die Initiative "9-Euro-Fonds" übernimmt die erhöhten Beförderungsentgelte aus Bus und Bahn für alle Menschen, die in den Fonds einzahlen – und führt das 9-Euro-Ticket sozusagen auf eigene Faust fort. Und die Initiative "Freiheitsfonds" kauft Menschen frei, die wegen "Erschleichung von Leistungen" in Ersatzhaft müssen. Damit hat der Fonds dem deutschen Staat nach eigenen Angaben schon 6,8 Millionen Euro Kosten gespart – mit 605.000 Euro Einsatz. Ein Hafttag kostet in Hamburg mehr als 220 Euro.

Senator: Politische Mehrheit für kostenlosen ÖPNV fehlt

An der Praxis der Ticketkontrollen wird sich wohl nicht so schnell etwas ändern – auch nicht mit Einführung des sogenannten Deutschlandtickets. Nichtsdestotrotz bezeichnen Dorothee Martin, verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Anna-Theresa Korbutt vom HVV das 9-Euro-Ticket mit seinem Nachfolgeprojekt im Podiumsgespräch Anfang Januar als "Revolution". Anjes Tjarks (Grüne), Senator für Verkehr und Mobilitätswende, ist überzeugt, dass das Deutschlandticket einen wichtigen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leiste.

Erik Horn hält dagegen, dass das Ticket auch mit der Ermäßigung für Sozialleistungsempfänger noch rund 23 Euro kosten würde. "Das ist immer noch ein Betrag, den viele Menschen nur schwer bezahlen können – weil die Regelsätze einfach so niedrig sind", sagt Horn. Heike Sudmann aus der Linksfraktion meint, das Problem müsse an der Wurzel angegangen werden. "Wir fordern schon seit Jahren, den HVV für Menschen mit wenig Einkommen endlich kostenfrei zu machen", sagt die Abgeordnete. Auch die anderen Gruppen fordern kostenlosen öffentlichen Nahverkehr.

Eine Idee, der auch Anjes Tjarks nicht grundsätzlich abgeneigt ist, wie er beim Podiumsgespräch zu verstehen gibt. Aber sowohl der notwendige Ausbau des ÖPNV als auch ein Deutschlandticket müssen finanziert werden, sagt der Senator. Schon das 49-Euro-Ticket sei in seiner jetzigen Form ein "Wunder". "Wir haben eine Volkswirtschaft von über 4.000 Milliarden Euro, natürlich können wir uns einen kostenfreien Nahverkehr leisten", so Tjarks. Das Problem: die fehlende politische Mehrheit für diese Idee.

Verwendete Quellen
  • Presseanfrage beim HVV
  • Presseinfos von Heike Sudmann
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