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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ehrenamtliches Projekt "Redezeit für dich" "Wir hören mittlerweile nicht mehr zu"
Reden ist wichtig, gutes Zuhören aber noch wichtiger. Eine ehrenamtliche Initiative bietet Interessierten qualitative Redezeit im Netz.
Vor drei Jahren stand die Welt nahezu still: Die Corona-Pandemie schränkte nicht nur die Mobilität abrupt ein, sondern auch die zwischenmenschliche Kommunikation. Manche Menschen waren einsam, andere mussten sich kleine Wohnungen mit zu vielen Menschen teilen – ohne Ausweg. Die beiden Hamburger Coaches Ute von Chamier und Florian Schleinig gründeten im März 2020, als in Deutschland der erste Lockdown verhängt wurde, die ehrenamtliche Initiative "Redezeit für dich". Das Konzept: Gutes Zuhören für Menschen, die Belastungen erfahren. Was hinter der Idee steckt, erzählten Sie t-online im Interview.
t-online: Sie bieten seit Beginn der Pandemie "Redezeit" an. Warum ist die so wichtig?
Ute von Chamier: Weil Reden verbindet. Durch diese Verbindung dann schafft man es eben auch, ins Gespräch zu kommen, im Gespräch zu bleiben und sich auszutauschen. Diese Verbindung ist nicht nur sprachlich, sondern eben auch eine persönliche zwischen Menschen. Das Miteinanderreden wurde in der Pandemie schwierig und hatte nicht mehr den Raum und den Rahmen, wie es vielleicht früher mal war.
Florian Schleinig: Das Reden als solches löst auch emotionale Anspannungen. Wenn Dinge ausgesprochen sind, lassen sie sich aus der Distanz betrachten, und das kann sehr hilfreich sein. Durch das Sprechen können wir uns auch besser verstehen und unsere eigenen Gedanken und Gefühle klären. Sprache und Kommunikation sind grundlegende Bedürfnisse des Menschen. Ohne die Fähigkeit zu sprechen und sich auszudrücken, wären wir nicht in der Lage, unsere Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse mit anderen zu teilen.
Gibt es für viele Menschen zu wenig Möglichkeiten zu sprechen und gehört zu werden?
Florian Schleinig: Durch die Pandemie hat sich gesellschaftlich ein bisschen was verändert. Einerseits, glaube ich, war das eine Situation, in der man ganz extrem gemerkt hat, was Isolation ausmachen kann. Parallel haben die Belastungen zugenommen: durch Homeoffice, Lockdown, Online-Unterricht und die oft sehr negativen Nachrichten. Wenn man sich nicht direkt begegnet, muss man auf anderem Wege Möglichkeiten der Interaktion schaffen. Reden und Zuhören haben noch mal eine neue Wertigkeit und Bedeutung bekommen.
Ute von Chamier: Uns geht es nicht um zu viel oder zu wenig. Es geht um die Art des Zuhörens. Ich glaube sogar, dass sehr viel geredet wird, aber immer mehr auch viel zu oberflächlich. Die Menschen, die bei uns mitmachen, sind ausgebildete Zuhörer. Es geht also nicht ums einfache Zuhören, sondern um ein gutes Zuhören. Das bedeutet, wirklich hinzuhören, wirklich da zu sein für den anderen und zu erfahren, worum es geht. Dabei spielen auch Zwischenfragen eine wichtige Rolle, um den anderen dahin zu bringen zu reflektieren. Wir leben sehr schnelllebig, und Kommunikation läuft vielfach über Internet und Social Media. Dort ist weniger der Dialog gefragt als das Präsentieren.
Warum ist gutes Zuhören, gerade in krisenhaften Situationen, so schwierig?
Ute von Chamier: Manchmal reicht es eben nicht, mit einem Freund oder einer Freundin zu sprechen. Im Gegenteil: Die können ja auch Teil der belastenden Situation sein. In erster Linie ist die ungeteilte Aufmerksamkeit wichtig. Außerdem gibt es Methoden, die dazu führen, dass die erzählende Person nicht den Faden verliert.
In Krisen kann es auch schwierig sein, einen klaren Gedanken zu finden. Als Zuhörerin muss ich also genau hinhören, aufmerksam und achtsam bei dem anderen sein. Das ist etwas, was die wenigsten wirklich lernen. Das ist auch der wichtige Moment bei unserem Angebot: Die Zuhörer haben es gelernt und sind in der Lage, genau das zu liefern, was dann in dem Moment wichtig ist für den anderen und auch zu einer Lösung führt, die der andere für sich selbst entwickeln kann.
Florian Schleinig: Wir hören mittlerweile nicht mehr zu, um zuzuhören, sondern wir hören zu, um zu antworten. So ist das im Alltag. Selbst als ausgebildeter Zuhörer ist man auch nur Mensch. So ertappe ich mich auch immer wieder dabei, dass ich, während ich zuhöre, eigentlich schon ganz andere Gedanken im Kopf habe, um gleich adäquat zu reagieren.
Was sind typische Geschichten, mit denen die Leute zu Ihnen kommen?
Florian Schleinig: Das ist eine wahnsinnige Bandbreite an Belastungsformen und Themen. Das kann eine Art von Frust sein, die man durchlebt, weil etwas gerade nicht so wirklich funktioniert, beispielsweise mit einem Kollegen an der Arbeit. Es können Konflikte in der Familie sein, die schon länger schwelen. Es können aber auch gravierende Themen sein, wie Existenzangst oder Arbeitsplatzverlust.
Im Grunde genommen kann man das nicht so wirklich kategorisieren, abgesehen von dem Empfinden, dass es eine Belastung gibt, die einen hemmt, seinem Tagwerk nachzugehen oder klar zu denken. Wir wollen auch ein Stück weit für solche Situationen sensibilisieren im Sinne der Prävention, bevor es zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen kommt.
Wie lief der Aufbau Ihrer Organisation?
Florian Schleinig: Wir sind sehr, sehr stark gewachsen, gerade im ersten Lockdown. Ursprünglich waren wir zu viert und hatten erst mal nur eine Social-Media-Aktion für unsere Kanäle geplant. Dieses Angebot ist dann in einem Newsletter für Coaches gelandet, der dann so 12.000 Kolleginnen und Kollegen erreicht hat. Die Resonanz war riesig und wir haben mehr als eine Woche gebraucht, um alle Mails abzuarbeiten. Wir sind mit einem Schritt also sehr stark gewachsen.
Dadurch, dass wir so ein niedrigschwelliges Angebot machen und man sich bei uns gar nicht registrieren muss, können wir genaue Zahlen, welche Gespräche geführt werden, nicht sehen. Das ist außerhalb unseres gewollten Wirkungsbereiches, das machen wir auch für die Anonymität der Leute, die Redezeit suchen. Wir wollen unabhängig sein und somit auch den Raum für Vertrauen schaffen, der vielleicht heute über das Internet nur noch schwer zu finden ist.
Hintergrund zum Beitrag
Die Ehrenamtskampagne "Helping Hands" zeichnet soziale Projekte in Hamburg aus. Sie wird von der Ströer-Gruppe initiiert, zu der auch das Nachrichtenportal t-online gehört. Schirmherrin ist die Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, Carola Veit.
- Interview mit Ute von Chamier und Florian Schleinig