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Zum journalistischen Leitbild von t-online.AfD-Veranstaltung in Harburg "Unsere Zeit wird kommen"
Draußen Demo und Wasserwerfer, drinnen AfD-Anhänger: Ein Besuch bei der Wahlkampfveranstaltung mit AfD-Chef Tino Chrupalla.
Auf der Straße eskalieren die Proteste, die Polizei setzt Wasserwerfer und Pfeffergas ein, um den Zugang zur AfD-Wahlkampfveranstaltung zu ermöglichen. In der Halle empfängt ein Mann am Klavier mit leiser Pianomusik die Gäste. Der Kontrast könnte nicht größer sein.
Pünktlich zum Doppelwahlkampf in Hamburg hatte sich nur eine gute Woche nach Alice Weidel auch Tino Chrupalla, eines der bekanntesten Gesichter der Rechtspartei, angemeldet. Die Veranstaltung in der Friedrich-Ebert-Halle in Harburg wurde von massiven Protesten begleitet. Eine Herausforderung, die die Partei wohl gerne auf sich nimmt. Denn hier im Bezirk Harburg hoffen die Rechtspopulisten noch auf Stimmenzulauf.
Schuld hat auf beiden Seiten die Polizei
Die Polizei hatte alle Hände voll zu tun, den Zugang zur Veranstaltung zu ermöglichen und die Teilnehmer und Demonstranten voneinander zu trennen. Und war somit für beide Seiten das größte Ärgernis. "Ein Teilnehmer hat, von der Polizei eskortiert, einen Hitlergruß gezeigt. Die Beamten sind nicht eingeschritten und wir werden immer wieder zurückgedrängt", kritisiert die Demonstrantin Maja T. die Arbeit der Polizei vor der Heimfelder St. Paulus-Kirche. In der Halle drischt Hamburgs AfD-Chef Dirk Nockemann verbal auf die Polizei ein, die es nicht schaffe, die Wege zur Veranstaltung anständig zu sichern. Seiner Meinung nach sind die Demonstranten vom "etablierten System" beauftragt. Was er damit meint, bleibt unklar.
Sabrina Heitmann ist aus Heimfeld und nicht beauftragt worden, an der Demonstration teilzunehmen, sondern sie treibt die Sorge vor der Politik der AfD um. "Wir werden unsere Demokratie gegen Ausgrenzung und Hass verteidigen", sagt sie. Ihr Stadtteil sei kulturell vielfältig. Sie ist mit ihrem Mann und ihren Kindern vor Ort. "Die AfD spielt uns gegeneinander aus und versucht, Migranten gezielt zu kriminalisieren."
AfD will die Gesellschaft spalten
Alexander Mann kommt aus Eimsbüttel und ist zur Demo über die Elbe angereist. Die AfD sei keine Alternative für Menschen mit kleinem Geldbeutel, sagt er. "Stattdessen setzt sie auf eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Armut verstetigt, Menschen in prekäre Arbeitsverhältnisse zwingt und vor allem die Reichen und ihre Vermögen schützt", sagt der Demonstrant – und räumt ein: "Natürlich gibt es immer wieder Gewaltdelikte, aber Menschen aus anderen Ländern unter Generalverdacht zu stellen und das Recht auf Asyl auszusetzen, ist gefährlich."
Problembezirk Harburg
Die AfD hat Harburg als Veranstaltungsort nicht zufällig ausgewählt. Rund ein Drittel der Bewohner dort lebt von Grundsicherung oder Bürgergeld. Knapp 52 Prozent der Bürger haben einen Migrationshintergrund, in 46 Prozent der Haushalte wird nicht Deutsch gesprochen. Ausgerechnet hier konnte die AfD zuletzt zulegen: Bei der anstehenden Bürgerschaftswahl könnte die AfD auf 11 Prozent kommen, 2021 erreichte die AfD 5 Prozent. Bei den Bezirkswahlen 2024 konnte die AfD in Harburg über 14 Prozent holen, vier Prozent mehr als bei der vorangegangenen Wahl.
Dennoch: Die Hansestadt Hamburg ist für die AfD kein einfaches Pflaster. Die rund 20 Prozent, die die Partei im Bund erreichen könnte, sind an der Elbe in weiter Ferne. Aktuelle Umfragen sehen die Partei bei rund 10 Prozent. Immerhin würde die AfD ihr letztes Ergebnis fast verdoppeln.
Nockemann heizt ein
In der Halle sind inzwischen viele Sitze gefüllt. Laut der AfD hätten sich rund 850 Menschen angemeldet, rund 650 Personen haben sich durch die Fronten aus Polizei und Gegendemonstranten geschlagen und den Weg in die Schulaula des Friedrich-Ebert-Gymnasiums gefunden. Als Einheizer spricht Dirk Nockemann und beschwört ein "besseres Hamburg" herauf, das sich die Menschen wünschen würden, in dem sie "sicher leben können". Er kritisiert den Senat dafür, dass man Gewalttaten von Menschen mit Migrationshintergrund in der Bürgerschaft nicht ansprechen dürfe, sonst werde man sofort als Rassist verunglimpft.
Mit stehenden Ovationen und unter lauten "Tino! Tino!"-Rufen kommt nach einer halben Stunde der Stargast des Abends auf die Bühne. Und der Bundesvorsitzende der AfD spricht: "Am ersten Tag unserer Regierung werden wir sofort für einen Grenzschutz sorgen, der diesen Namen auch verdient, und die Grenzen schließen, wir werden Menschen abweisen, denn dann kommt die Zeit der Deutschen", sagt Chrupalla gleich zu Beginn seiner Rede. Die Zeit der Nachsicht und der unkontrollierten Aufnahme von Fremden sei dann endgültig vorbei. Für ihn seien die Vorschläge zur Grenzsicherung von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz unzureichend und absichtlich so formuliert, dass die AfD dem nur schwer zustimmen könne. "Wir werden über kurz oder lang regieren. Unsere Zeit der Alternative wird kommen", zeichnet Chrupalla seine Zukunftsvision.
"Wir sollten uns da raushalten"
Die Rede von Chrupalla ist eine Abrechnung mit den "alten Parteien", wie er sie nennt. Als katastrophal schätzt Chrupalla den Zustand Deutschlands in vielen Punkten ein. In Bezug auf die Corona-Pandemie sagt er, "Ich will Menschen wie Karl Lauterbach und Jens Spahn nie wieder in politischen Ämtern sehen."
Mit Blick auf den Angriffskrieg durch Russland auf die Ukraine fordert Chrupalla, "mit unserer geschichtlichen Verantwortung sollten wir uns da raushalten." Es ist eine Fundamentalkritik gegen die anderen im Bundestag vertretenen Parteien, die das Engagement und die Unterstützung Europas in der Ukraine gerade mit Blick auf die Geschichte betreiben. "Mit dem Geld, das zur Waffenhilfe an die Ukraine geht, sollen lieber deutsche Rentnerinnen und Rentner unterstützt werden", ruft Chrupalla unter tosendem Applaus seiner Anhänger und bemüht das Klischee der verarmten Rentner, die Flaschen sammeln und jeden Cent zweimal umdrehen müssen.
Auch die Jugend sei in Deutschland ohne Perspektive, gut ausgebildete Menschen würden die Republik verlassen und stattdessen komme noch mehr Armut ins Land. Im Grunde kommt Chrupalla bei vielen Themen am Ende wieder auf die Migration zu sprechen. Das gefällt den Gästen im Saal, immer lauter der Jubel, auch wenn die Aussagen einigen im Saal nicht radikal genug sind, wie man durch Zwischenrufe heraushören kann. Die Veranstaltung endet, wie sie begonnen hat, mit noch lauteren "Tino!, Tino!"-Rufen und stehendem Applaus.
AfD will wieder nach Heimfeld kommen
Vor der Tür hat sich die Demonstration inzwischen fast zerstreut. Als die rund 650 Gäste die Veranstaltungshalle verlassen, gibt es nur noch wenig Protest. Ein AfD-Pressesprecher hat angekündigt, am 22. Februar wieder nach Heimfeld kommen zu wollen. Der oder die Rednerin stehe allerdings bislang nicht fest.
- Reporter vor Ort
- hamburg.de: SOZIOSTRUKTURELLE DATEN UND INFRASTRUKTUR NACH SOZIALRÄUMEN DES BEZIRKS HARBURG 2024 (pdf)
- landkreis-harburg.de: Kreiswahl 2021
- wahlen-hamburg.de: Bezirksversammlungswahlen 2024 in Hamburg