Hamburg Industrie fordert eine "echte Reform-Agenda 2030"
Spitzenverbände der Wirtschaft haben mit dem Abflauen der Corona-Pandemie eine echte Reform-Agenda 2030 gefordert. Bei der Corona-Pandemie sei der Norden mit einem blauen Auge davongekommen, sagte der Präsident des Unternehmensverbands UV Nord, Philipp Murmann, am Freitag in Hamburg bei der Jahresveranstaltung "Konjunkturperspektiven 2022" des UV Nord, des Industrieverbands Hamburg (IVH) und der Deutschen Bundesbank. "Wir können noch nicht von einem Ende der Pandemie sprechen, aber (...) wir sollten langsam (...) den Krisenmodus verlassen und den Blick deutlich nach vorne richten." Denn nun sei der späteste Zeitpunkt für den Beginn einer "echten Reform-Agenda 2030".
Murmann verwies etwa auf Chipmangel, Rohstoffknappheit, Preisexplosion etwa im Energiebereich, gestörte Lieferketten und fehlende Transportkapazitäten, die sich sämtlich nicht kurzfristig beheben ließen. Aber auch in Norddeutschland sei viel zu tun. Die Autobahn A20 müsse endlich gebaut, der Nordostsee-Kanal ausgebaut, die Verwaltung reformiert und die Zusammenarbeit mit Hamburg und Schleswig-Holstein bei der Landesplanung noch intensiviert werden.
Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, warnte vor zu hohen Erwartungen an die Koalitionsverhandlungen in Berlin. "Ich mahne zur Vorsicht, was unsere Erwartungen angeht." Es verhandelten Parteien, "die jeweils von ihrer Klientel mit erheblichen Erwartungen losgeschickt werden, die zum Teil schon durch das Positionspapier enttäuscht wurden", sagte der BDI-Chef mit Blick auf den linken Flügel der SPD oder besonders klimabewegte Grüne. Gleichzeitig müsse die Industrie aber auch aufpassen, "dass wir nicht alle unsere Erwartungshaltungen auf Christian Lindner und die FDP projizieren".
"Bei allen Unwägbarkeiten und Risiken, auch mit Blick auf den weiteren Verlauf der Pandemie gibt es insgesamt gute Gründe davon auszugehen, dass das Wirtschaftswachstum im Jahr 2022 recht kräftig ausfallen dürfte", sagte der Leiter der Abteilung Konjunktur und Wachstum der Deutschen Bundesbank, Hermann-Josef Hansen. Vor allem in der Industrie sei die Produktion zwar wegen Lieferengpässen etwa bei Rohstoffen erheblich gedämpft. Dennoch hätte die Pandemie noch viel schlimmere Auswirkungen haben können. So habe der Staat zahlreiche Arbeitsplätze durch die Kurzarbeit gerettet. Auch sei die befürchtete Insolvenzwelle ausgeblieben.
Der Direktor des Forschungszentrums Konjunktur und Wachstum des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Stefan Kooths, sagte, er gehe davon aus, dass die Pandemie Mitte 2022 konjunkturell betrachtet weitgehend durchgestanden sei und wieder eine Normalauslastung vorherrsche. Einen Anlass für Konjunkturprogramme gebe es nicht. Im Gegenteil: So habe er sich doch über Aussagen im Sondierungspapier der möglichen neuen Koalition gewundert, wonach die Dekarbonisierung ein Konjunkturprogramm für das Handwerk sei. "Auf welchem Planeten leben die eigentlich? Haben die im vergangenen Jahr mal versucht einen Handwerker zu engagieren?", fragte Kooths mit Blick auf die derzeit herrschende Quasi-Vollauslastung im Handwerk.
Hart ins Gericht ging Kooths mit der Reduzierung der Mehrwertsteuer in der Corona-Pandemie. Das sei völlig sinnlos gewesen, da es während des Lockdowns kaum Möglichkeiten gab, überhaupt Geld auszugeben. "Da nutzt es überhaupt nichts, wenn Sie dem Gastronomen sagen, Du darfst zwar keine Umsätze machen, aber dafür senke ich Dir die Umsatzsteuer." Das sei fast zynisch. Diese 18 Milliarden Euro seien schlicht verplempert worden, längen nun auf bei Privathaushalten auf der hohen Kante und stellten ein Stabilitätsrisiko bei der Preisentwicklung dar.
Entsetzt sei er auch über Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), der mit Blick auf die Rentenentwicklung und den Arbeitsmarkt sage, demografische Prognosen seien unsicher. "Prognosen sind unsicher, da gehe ich mit", sagte Kooths. "Aber die nicht." Das sei ein "bewusst sich die Augen zuhalten" des Bundeskanzlers in spe.