Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Soziale Proteste in Hamburg "Wer vorher am Existenzminimum gelebt hat, verzweifelt jetzt völlig"
Mehr als 2.000 Menschen sind am Samstag durch die Stadt gezogen – ihr Anliegen: "Solidarisch durch die Krise". Sie fordern etwa einen Deckel auf Lebensmittelpreise.
Mit knapp 20 Grad Celsius ist es ein "heißer" Herbsttag in Hamburg. "Löhne rauf, Mieten runter" steht in Großbuchstaben auf einem weißen Transparent, das drei Menschen über ihre Köpfe heben. Damit bilden sie die Spitze der Demo "Solidarisch aus der Krise", die sich am Samstagmittag am Berliner Tor aufstellt. "Egal ob bei Grundnahrungsmitteln, Gas oder Strom: Immer mehr von uns können sich das Leben nicht mehr leisten", liest ein Redner den Aufruf der Demo vor.
Seit Anfang September gibt es an zahlreichen Orten in ganz Deutschland von rechten wie linken Bündnissen Demonstrationen gegen die steigenden Preise. Unter dem Motto "Wir haben keinen Bock auf Armut" demonstriert auch in Hamburg regelmäßig eine niedrige dreistellige Zahl Menschen zum "heißen Herbst" – unter Beteiligung von zahlreichen Gesichtern der Proteste gegen Corona-Maßnahmen sowie Anhängern von NPD und AfD. Auf Plakaten und Transparenten findet sich hier fast alles wieder, was die Proteste in den vergangenen zwei Jahren zutage gefördert haben.
Ihnen wollen die linken Aktivisten in Hamburg nicht das Feld überlassen. Anfang September schrieb die Gruppe für den organisierten Widerspruch (Grow) auf Twitter: "Es wird Sozialproteste geben – so oder so". Linke müssten sich entscheiden, ob sie eine "solidarische antikapitalistische Perspektive" auf die Straße tragen wollen oder "Nazis das Thema überlassen", schrieb Grow weiter. Sie gehören zu 71 Gruppen, die den Aufruf zur Bündnisdemo "Solidarisch aus der Krise" unterzeichnet haben. Bündnisarbeit brauche dabei Zeit, erklärt ein Sprecher auf Nachfrage, warum erst jetzt eine Demo stattfindet.
"Mein Sohn und ich haben 102 Euro pro Woche"
Mit mehr als 2.000 Demonstrantinnen und Demonstranten ist die Demo die bisher wohl größte zu diesem Thema in Hamburg. Vom Berliner Tor ziehen die Aktivisten durch St. Georg in Richtung Hauptbahnhof. Sie skandieren: "100 Milliarden für Bildung und Gesundheit" oder "Brecht die Macht der Banken und Konzerne". Die Aktivisten wollen nicht länger zuschauen, wie Konzerne Extragewinne einstreichen, während Beschäftigte, Erwerbslose und ein großer Teil des Mittelstands verarmen.
Die geplanten Maßnahmen der Regierung wären dabei nicht ausreichend. "Das ist wieder dieses Gießkannenprinzip", erläutert Susanne Hansen von der Initiative "Ich bin armutsbetroffen". "Die Gaspreisbremse kommt zu spät, die Einmalzahlung reicht nicht aus". Aktuell bezieht Hansen Hartz IV und will Armut sichtbarer machen. Sie demonstriert für ein existenzgesichertes Leben. "Mein Sohn und ich haben 102 Euro pro Woche – für alles", berichtet sie. Die aktuelle Preisentwicklung mache ihr Angst.
"Der Reichtum der Gesellschaft muss umverteilt werden"
"Die Ungleichheit nimmt dystopische Züge an: In Deutschland besitzen zwei Menschen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung", sagt Ansgar vom Umverteilungsbündnis "Wer hat, der gibt." Die Illusion, dass der Markt alles regle, sei "Bullshit". "Der Markt kann keine Energiesicherheit, er kann keinen Klimaschutz und er kann auf keinen Fall soziale Gerechtigkeit", schließt Ansgar. "Der Reichtum dieser Gesellschaft muss umverteilt werden, sodass alle in diesem Land und anderswo ausreichend zum Leben haben", erklärt ein Sprecher des Bündnisses auf Nachfrage. "Lasst uns ihre Angst wahrmachen: Streiten wir für eine klassenlose, antiautoritäre Gesellschaft, in der wir gemeinsam entscheiden, wie wir leben und produzieren wollen", fordert eine Sprecherin von Grow in ihrer Rede.
Die beteiligten Gruppen stammen aus verschiedenen linken Strömungen und bilden zum Teil eigene Demoblöcke. Einige antiautoritäre und anarchistische Gruppen laufen vor dem ersten Lautsprecherwagen, gewerkschaftliche und kommunistische Gruppen in einem großen Block hinter dem Wagen. Weiter hinten laufen Parteien, "Wer hat, der gibt" sowie zahlreiche weitere Gruppen und Bündnisse.
Interne Konflikte wegen "Querdenker"-nahen Teilnehmern
Eine Organisation führt dabei gleich zu Beginn zu internen Konflikten. Einige Demonstranten werfen dem Hamburger Forum mit ihrem Transparent "Kriege beenden! Abrüsten!" vor, mit "Querdenkern" zu demonstrieren sowie antisemitisch und verschwörungsideologisch zu sein. Auf einer Friedensdemo des Hamburger Forums vor ein paar Wochen in Altona war die Partei "Die Basis" vom Lautsprecherwagen begrüßt worden – sie entstand aus den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen.
Demoteilnehmer kritisieren deshalb die Teilnahme an der Bündnisdemo. "Wir möchten nicht mit solchen Gruppen eine Sache machen", erklärt Paul vom "Schwarz-Roten 1. Mai". Trotz Diskussion kann das Transparent am Ende mitlaufen.
"Dass ausgerechnet Rechte die soziale Frage für sich entdeckt haben wollen, ist lediglich strategisches Kalkül", meint später ein Demonstrant in einer Rede. Sie würden den politischen Unmut für ihre politischen Zwecke missbrauchen wollen, führt er fort. "Unsere Antwort heißt Solidarität und keinen Fußbreit dem Faschismus."
Demonstrierende fordern Preisdeckel für Lebensmittel und Mieten
Solidarität heißt für die Aktivistinnen und Aktivisten von "Solidarisch aus der Krise" einen Preisdeckel für Energie, Lebensmittel und Mieten, eine dauerhafte Erhöhung von Löhnen und Sozialleistungen sowie einen kostenlosen ÖPNV. Das Bündnis setzt sich dabei für Übergewinn-, Erbschafts- und Vermögenssteuern sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien ein und richtet sich gegen fossile Abhängigkeit, Aufrüstung und Atomenergie.
Und sie sind mit ihrer Demo nicht die Einzigen, die eine linke Antwort auf die Krise sichtbar machen. Am Montag fand bereits die zweite Kundgebung von "Hamburg gegen Abzocke" statt. Mit einem offenen Mikrofon und heißen Getränken wollen die Aktivisten und Aktivistinnen alle zwei Wochen am Hauptbahnhof einen Anlaufpunkt schaffen und ihre Kritik auf die Straße tragen. Auch das Bündnis "Solidarisch aus der Krise" kündigt auf der Webseite an, weiterzumachen.
- Reporter vor Ort