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Jugendgewalt in Heide: Opfer nimmt an Mahnwache teil


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Gewalttat in Heide
Opfer nimmt an Mahnwache teil


26.03.2023Lesedauer: 6 Min.
Heide am Sonntag: Wie am Vortag versammelten sich Menschen zu einer Mahnwache.Vergrößern des Bildes
Heide am Sonntag: Wie am Vortag versammelten sich Menschen zu einer Mahnwache. (Quelle: Jannis Große)

Ein Mädchen in Heide wird Opfer brutaler Gewalt. Der Ort ringt um Antworten. Zwei Tage, zwei Mahnwachen.

Heide, Landkreis Dithmarschen: Roter Klinker, ruhige Seitenstraßen und eine kleinstädtische Fußgängerzone. Eine friedliche Stadt in Schleswig-Holstein, könnte man meinen.

Vergangene Woche machte aber ein Video aus dem 20.000-Einwohner-Ort in sozialen Netzwerken die Runde: Mehrere Jugendliche quälen und mobben darin eine 13-Jährige auf offener Straße.

Es ist nicht der erste gewalttätige Übergriff. Im vergangenen Jahr kam es auf dem Südermarkt in Heide wiederholt zu Schlägereien, Diebstählen und anderen Straftaten. Im Mai 2022 starb am Südermarkt ein 20-Jähriger an den Folgen einer Schlägerei.

Genau hier, am Südermarkt findet am Samstagmittag eine Mahnwache statt. Die dritte in einem Jahr, sagt der Bürgermeister. Aufgerufen haben Johanna Sterrenberg und Jörg Zydek von der Motorradvernetzung "BIKE SH".

Bürgermeister von Heide: Wie gehen wir mit den Schwächsten um?

Die Motorradfahrer haben beide selbst Kinder und wollen mit ihrer Community ein Vorbild sein. "Das hier ist ein ganz klares Zeichen gegen Gewalt – in unserer Gesellschaft und in der Jugend", sagt Johanna Sterrenberg. "Motorradfahrer sind ja grundfreundlich: sie grüßen einander, sprechen miteinander, auch wenn sie sich gar nicht kennen", ergänzt Jörg Zydek. Diese Grundfreundlichkeit wollen die beiden Initiatoren hier in die Öffentlichkeit tragen. "Um der Jugend zu zeigen, dass Hass, Neid und Missgunst eben nicht zu Gemeinschaft und Freundschaft führen", wie Zydek sagt.

"Schon wieder eine Mahnwache. Schon wieder in Heide. Schon wieder gegen Gewalt", beginnt der Bürgermeister Oliver Schmidt-Gutzat (SPD) seine Grußrede. Der Südermarkt ist seit dem Vorfall im vergangenen Jahr videoüberwacht. Zeitweise galt er als "gefährlicher Ort" – eine rechtliche Handhabe für anlasslose Polizeikontrollen. "Den Zustand einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht – demnach sind wir krank", fährt Schmidt-Gutzat fort.

"Mobbing kann töten" steht auf einem Sarg

Mehr als 400 Menschen sind am Samstag zur Mahnwache gekommen: Familien, Autofans und etliche Motorradclubs mit gut 90 Motorrädern. Aufs Dach eines PKWs haben die "Autofreunde Nordseeküste" einen Sarg gespannt.

"Mobbing kann töten" steht darauf in roter Schrift. Viele Teilnehmenden der Mahnwache tragen Kutten oder Kleidung der Motorradclubs. Eine Familie legt sichtlich betroffen einen gelben Blumenstrauß am St. Georg-Brunnen ab.

Rassistische Vereinnahmung

"Wenn Kindern und Jugendlichen ein funktionierender Wertekompass fehlt, sind wir als Gesellschaft gefragt", meint Oliver Schmidt-Gutzat in seiner Rede.

Im Windschatten der Empörung versuchen einige, den Vorfall für ihre rassistischen Positionen zu missbrauchen. Schon im Vorfeld der Demos zeigte sich online die Instrumentalisierung durch rechte Akteure, die die angreifenden Jugendlichen im Video offensichtlich als People of Color oder Menschen mit Migrationshintergrund lesen.

So riefen zum Beispiel die "Wackren Schwaben" auf Twitter zum Aktionismus auf und forderten "konsequente Remigration". Der Vorfall sei eine Folge unserer bunten Gesellschaft, behauptete die Gruppe, die als Nachfolgestruktur der Identitären Bewegung (IB) in der Region Stuttgart gilt. Der Tweet zeigte einen Ausschnitt des Videos und ist inzwischen von Twitter gelöscht worden.

Unter dem Stichwort "Heide" hetzen aber auch Abgeordnete und Mitglieder der AfD gegen Menschen mit Migrationsgeschichte.

Kriegsflagge auf Kutte

Mit rassistischen Äußerungen fällt vor Ort niemand auf. Auf einigen Kutten sieht man aber immer wieder Bezüge zur nordischen Mythologie: "Walhalla"-Schriftzüge oder Symbole von Thors Hammer. Ein Ordner trägt die Kriegsflagge des Deutschen Kaiserreichs auf seiner Kutte. Auf der Kleidung der "Black Seven”, der Supportstruktur des Gremium MC, prangen Reichsadler und die Worte "Tradition verpflichtet".

Symbolik, die sich auch in rechten bis rechtsextremen Kreisen wiederfindet. Recherchen des Bayerischen Rundfunks zeigten im Dezember sogar Verbindungen des Rocker-Clubs Gremium ins rechtsextreme Milieu.

Initiatorin: Corona ist das Problem

"Ich finde ja, dass Rassismus generell keinen Platz haben sollte in unserer Gesellschaft", sagt Anmelderin Johanna Sterrenberg auf die Onlinekommentare angesprochen. Sie sieht das Problem hinter der Aggressivität bei Jugendlichen nicht bei der Integration, sondern bei der Frage: "Was hat Corona alles mit den Kindern gemacht?"

Zwei Jahre lang hätten die Kinder nicht raus gekonnt, hätten sich nicht entwickeln, nicht entfalten dürfen. "Die ganze Zeit wurden sie eingesperrt in ihrem Sein, in ihrem Tun", meint Sterrenberg. Auch Bürgermeister Schmidt-Gutzat sieht in den Vorfällen einen Zusammenhang mit Corona. Einige würden die "wiedergewonnene Freiheit" dazu missbrauchen, "Menschen zu drangsalieren, zu schlagen, zu nötigen und zu mobben", sagt er dazu.

Eine Einschätzung, die auch Kinderpsychiaterin Sibylle Winter von der Berliner Charité teilt. "Ich glaube auf jeden Fall, dass Corona schon dazu beiträgt, dass es da eine Gewaltsteigerung gibt", sagte sie am Donnerstag in der ZDF-Sendung Markus Lanz. Die 12- und 13-Jährigen seien zu Beginn ihrer Pubertät mit Schulschließungen konfrontiert gewesen und hätten dadurch auch weniger ihre sozialen Kompetenzen ausbilden können, argumentiert die Expertin.

Die Suche nach Lösungen

Bürgermeister Schmidt-Gutzat sucht in seiner Rede nach Lösungen. Er spricht von Freizeitangeboten, Sozialarbeit und Repressionen für die "auffällig gewordenen" Jugendlichen in Heide – wohl ein Dauerthema, wie man den Reaktionen der Menschen hier entnehmen kann. Sie haben das Gefühl, dass nicht genug getan wird.

Der Bürgermeister sieht zumindest einen Teilerfolg. "Viele Jugendliche konnten aus dem unmittelbaren Umfeld gewalttätiger Gruppen wieder herausgelöst werden", sagt er in seiner Rede.

Für die Forderung nach schnellen Verfahren gegen jugendliche Straftäter bekommt Schmidt-Gutzat von der Menge Applaus. Vereinzelt sei es schon zu Verfahren und sogar Urteilen gekommen, berichtet er. "Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann muss als letztes Ziel auch die Möglichkeit bestehen, Kinder und Jugendliche zumindest zeitweise aus dem Umfeld der Erziehungsberechtigten zu entfernen", fordert der Bürgermeister. Erneut gibt es Applaus.

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Nächste Mahnwache am Sonntag: Die betroffene Jugendliche ist in der Menge

Um Lösungen geht es auch Carsten Stahl, der am Sonntag zu einer weiteren Mahnwache nach Heide gekommen ist. Stahl ist Fitnesstrainer, Kampfsportler, Personenschützer und manchen als Darsteller einer RTL2-Serie bekannt. "Ich bin jemand, der Klartext redet: Kinderschutz ist nicht verhandelbar", schreit er ins Mikrofon. "Gewalt, Mobbing, Rassismus, Hass, Vorurteile" würde er seit zehn Jahren jeden Tag sehen, solche Videos wie aus Heide seien für ihn kein Einzelfall.

Gut 1.000 Menschen versammeln sich nach Polizeiangaben am Rand des Heider Marktplatzes, einer großen Parkplatzfläche direkt neben dem Südermarkt. Viele Jugendliche und Familien sind gekommen, es scheint ein Querschnitt der Gesellschaft zu sein. Man sieht Menschen mit Hijab, mit buntem Iro, aber auch Menschen mit Pullovermotiven, die ins rechte Milieu passen. Mittendrin auch die betroffene Jugendliche aus dem Video mit ihrer Familie. Auf einem Transparent neben der Bünhne steht: "Mobbing? Nicht mit uns!"

Carsten Stahl: Zwei Täterinnen baten um Entschuldigung

Mit ihren Smartphones filmen viele die Rede von Carsten Stahl. Er fordert die Menschen dazu auf, sich zusammenzuschließen, zu handeln und aufzuhören zu bitten. "Wenn ihr euch zusammentut, habt ihr Macht. Damit könnt ihr Wahlen steuern und davor haben sie Angst", sagt Carsten Stahl. Seine Rede ist emotionalisierend, seine Stimme laut und wütend – ganz wie in den Videos, die der selbsternannte Präventionscoach in den sozialen Medien veröffentlicht.

Stahl erzählt, er habe sich mit zwei der Täterinnen getroffen, die sich in Anwesenheit der Mütter bei dem Opfer entschuldigt hätten. Er richtet sich in seiner Rede direkt an die 13-Jährige: "Ich habe dir versprochen, Kleines, dass du keine Angst mehr haben musst und dass ab jetzt Hunderte hinter und neben dir stehen." Die Menge applaudiert. Mobbing führe zu Suiziden, Morden und Amokläufen, sagt Stahl. Über Politik und Schulen verliert er fast kein gutes Wort. Carsten Stahl kritisiert, es werde zu viel geredet und zu wenig gehandelt. “Ich hab mich in den Zug gesetzt und dafür gesorgt, dass dieses Kind keine Angst mehr hat", sagt er.

Immer wieder neue Themen

Seine Rede wirkt. Die Menschen applaudieren, stimmen ihm zu. Immer wieder macht er ein neues Thema auf: Es geht um Kindesmissbrauch und Kinderpornographie. Stahl erzählt von seinen Mobbingerfahrungen und betont beständig, wie vielen Leuten er schon geholfen habe. Es folgt eine Schweigeminute für Luise aus Freudenberg und allen anderen Opfern von Mobbing.

Nach seiner mehr als 30-minütigen Rede gibt Stahl Jugendlichen und Erwachsenen die Möglichkeit etwas zu sagen. Während einige von eigenen Mobbingerfahrungen berichten, leert sich der Platz nach und nach. Zwischen den Reden, ergreift Stahl selbst immer wieder das Wort. Anders als die Jugendlichen ist der Präventionscoach so laut, dass man ihn 650 Meter weiter am Bahnhof immer noch hört. Neben emotionalen Worten hat er hier auch eine ganz konkrete Forderung: Fünf Prozent der 100 Bundeswehr-Milliarden für die Bildung.

Verwendete Quellen
  • Eigene Beobachtungen vor Ort
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