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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ermittlungen zum Amoklauf in Hamburg Gewollt – aber nicht gekonnt
Ein Jahr nach der Amoktat von Philipp F. in Hamburg deutet vieles darauf hin, dass die Tat hätte verhindert werden können. Eine Analyse.
Der Amokläufer Philipp F. tötete am 9. März sechs Erwachsene, ein Ungeborenes und dann sich selbst. Es war einer der größten Polizeieinsätze der Hamburger Polizei in den letzten Jahrzehnten. Schnell war klar: Philipp F. hatte die Tatwaffe legal besessen. Er hatte die nötigen Prüfungen abgelegt und in einem Club das Schießen gelernt. Doch es wurde auch bekannt, dass er psychische Probleme hatte.
Deshalb kamen schon bald kritische Fragen auf: Hätte dieser Amoklauf verhindert werden können? Gab es Anzeichen dafür, dass Philipp F. für Waffenbesitz ungeeignet war?
Ein Jahr und intensive Ermittlungen später deutet vieles darauf hin. Offenbar hatten Behörden Fehler gemacht und Warnsignale ignoriert, Informationen nicht korrekt weitergegeben. Im Nachhinein entstand zudem der Eindruck, dass die Ermittlungsbehörden versuchten, von Fehlern abzulenken, indem sie krampfhaft einen Schuldigen außerhalb des Staatsapparates suchten.
- Lesen sie hier die Rekonstruktion des Einsatzes: "Achtung, Philipp schießt"
Die Aufarbeitung des Amoklaufs wurde mit viel Aufwand betrieben. Fast 40 Beamte untersuchten anfangs in einer sogenannten BAO, also einer "Besonderen Aufbauorganisation", den Tathergang, die Hintergründe der Tat, aber eben auch die Vorgeschichte und Motivlage des Täters. Und wichtig: Das Vorgehen der Waffenbehörde sollte noch einmal kritisch hinterfragt werden.
Psychische Probleme
Philipp F. wuchs laut Verwandten in einer Familie auf, die zur Gemeinde der Zeugen Jehovas in Kempten gehöre. Sie haben F. als "sehr sensibles Kind" in Erinnerung. Seit mehreren Jahren lebte F. in Hamburg. Dort soll er 2020 erneut mit Zeugen Jehovas in Kontakt gekommen sein – und ließ sich offenbar überzeugen, sich der dortigen Gemeinde anzuschließen.
Schon 2019 bemerkten Verwandte und Freunde von Philipp F., dass er sich veränderte und offenbar unter psychischen Problemen litt. Die Ermittler erzählten in einer Sitzung des Innenausschusses gut einen Monat nach der Tat von Wesensveränderungen, Philipp F. habe Wahnvorstellungen gehabt und Stimmen gehört.
Der Bruder von Philipp F. hatte dies demnach bereits Mitte 2021 dem Sozialpsychiatrischen Dienst der Hansestadt Hamburg mitgeteilt. Da zu dieser Zeit Corona-bedingt immer wieder Kontaktbeschränkungen galten, rief dieser F. lediglich an und beriet ihn telefonisch. Sie vereinbarten, wieder zu sprechen, "wenn es ihm schlechter" gehen sollte.
Der CDU-Bürgerschaftsabgeordnete Dennis Gladiator kritisierte in der Sitzung des Innenausschusses das Vorgehen der Behörde. Wörtlich sagte er damals: "Das mit einem Telefonanruf zu erledigen, erscheint zumindest fragwürdig und wirft weitere Fragen auf."
Philipp F. geht in den Schießverein
Im September 2021 wurde Philipp F. Mitglied im Hamburger Schießklub "Hanseatic Gun Club". Der Leiter des Landeskriminalamtes wird später in einer Sitzung des Innenausschusses sagen, das könnte "als der Versuch der Kompensation von Kontrollverlust und damit der Stabilisierung gedeutet werden". Es könnte aber auch: "dem Selbstschutz" oder "zukünftiger Gewaltausübung gedient haben".
Anonymer Hinweis
Am 24. Januar 2023, wenige Wochen vor der Tat, gab es erstmals einen konkreten Hinweis darauf, dass Philipp F. tatsächlich gefährlich war. Denn an diesem Tag ging ein anonymes Schreiben bei der Polizei ein. Darin wurde vor einer besorgniserregenden Wesensveränderung von Philipp F. gewarnt.
Offenbar nahm die Waffenbehörde das zum Anlass, Informationen über F. zu sammeln. Wie im Nachhinein herauskam, wussten sie von einem Buch, das Philipp F. geschrieben und erst kurz zuvor veröffentlicht hatte, kannten aber dessen Inhalt nicht. In dem Buch fantasierte Philipp F. von einem "1.000-jährigen Reich", vom Satan und beschrieb Hitler "als Werkzeug Christi." Die Behörde kannte auch Philipp F.s Homepage. Dort präsentierte er sich als erfolgreicher Berater für Controlling bis Theologie, bot seine Dienste für 250.000 Euro an und versprach seinen Kunden einen Mehrwert von "mindestens 2,5 Millionen Euro".
Gutachten über das Manifest
Niemand in der Waffenbehörde wurde offenbar skeptisch und recherchierte tiefer. Im Nachhinein rechtfertigte die Waffenbehörde ihr Nichtstun damit, dass aus dem Buch nicht zwangsläufig eine Gefahr für die Öffentlichkeit habe konstruiert werden können. Um das zu untermauern, gaben die Behörden ein Gutachten beim Terrorismusexperten Peter Neumann vom King's College in London in Auftrag. Neumann kommt darin zu dem Schluss, dass in der Gesamtbetrachtung F. nicht "als politischer Extremist erkennbar" gewesen sei.
Gut zwei Wochen nach dem anonymen Hinweis suchte die Waffenbehörde Philipp. F. am 7. Februar 2023 bei sich zu Hause auf. Dort stellten die Beamten fest, dass F. eine Patrone nicht im Waffenschrank lagerte. Ein Verstoß gegen das Waffengesetz – eine Ordnungswidrigkeit. Doch die Behörde wurde nicht tätig. Obwohl es das anonyme Schreiben gab, das auf seine Wesensveränderung hinwies, und obwohl bekannt war, dass Philipp F. mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst Kontakt hatte. Er wurde lediglich ermahnt, die Waffe und die Munition besser aufzubewahren.
Im Innenausschuss betonte der Polizeipräsident später, dass ein Entzug der Waffe wegen eines psychischen Problems schwer möglich gewesen wäre. Dies sei ein langwieriges Verfahren. Tatsächlich aber ermöglicht das Waffengesetz unter Paragraf 41, die Waffen bei Gefahr in Verzug einfach zu entziehen. Wäre dies am 7. Februar passiert, hätte die Tat mit großer Wahrscheinlichkeit verhindert werden können.
Nach der Tat suchten Staatsanwaltschaft und Polizei schnell Verantwortliche außerhalb der Behörden. Der Hanseatic Gun Club geriet ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Denn es wurde im Laufe der Ermittlungen bekannt, dass sich angeblich der Bruder von Philipp F. schon frühzeitig an die Verantwortlichen dort gewandt hatte. Dieser Hinweis sei laut Polizei nicht an die Waffenbehörde weitergegeben worden. Sogar Hamburgs Innensenator Andreas Grote sagte auf der Innenausschusssitzung am 6. April, einen Monat nach der Tat, dass noch andere Themen im Raum stünden, "die noch weiter ermittelt werden müssen, rund um den Hanseatic Gun Club".
t-online setzt Behörden unter Druck
Dabei stellte sich später durch eine Recherche von t-online heraus: Die Verantwortlichen des Hanseatic Gun Club hatten die Informationen über Philipp F. an einen Mitarbeiter der Waffenbehörde weitergegeben – schon Monate vor der Tat. Der habe ihnen gesagt, Philipp F.s Bruder zu raten, sich mit einem anonymen Hinweis an die Polizei zu wenden. Die Verantwortlichen des Hanseatic Gun Club belasteten also die Waffenbehörde.
Auf der nächsten Innenausschusssitzung am 11. Mai 2023 musste Polizeipräsident Ralf Martin Meyer einräumen, dass wegen der Berichterstattung von t-online schneller habe gehandelt werden müssen als geplant. Dem Mitarbeiter der Waffenbehörde waren wenige Stunden nach der Veröffentlichung der t-online-Recherche Zugänge zur Behörde gesperrt worden. Das wurde damit erklärt, so habe verhindert werden sollen, dass er Beweismittel manipuliere. Zudem habe man ihn vor einer Selbstgefährdung schützen wollen. Dem Mann wurde der Zugriff auf seine Dienstwaffe gesperrt. Weil er den Hinweis auf eine mögliche Gefährdung nicht weitergegeben hatte, wird gegen ihn ermittelt: wegen fahrlässiger Tötung in sechs Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in 14 Fällen.
Auf dem Holzweg
Auf ihrer Suche nach einem Schuldigen außerhalb der Behörden, die viele Hinweise übersehen hatten, stießen die Ermittler auf die Prüfungskommission des Hanseatic Gun Club, also jene Menschen, die Philipp F. im Oktober 2022 für die waffenrechtliche Erlaubnis seine Sachkunde bestätigt hatten.
In einer Pressemitteilung vom 27. April 2023 schrieb die Generalstaatsanwaltschaft, dass die drei Mitglieder des Prüfungsausschusses eine Urkunde gefälscht hätten. Es geht darum, dass Philipp F. für die praktische Schießprüfung in eine Nachprüfung musste. Die war Monate nach dem ersten Prüfungstermin, die Urkunde trägt trotzdem den ersten Termin. Konkret schreiben die Ermittlungsbehörden dazu, Phillipp F. hätte "im Dezember 2022 mutmaßlich keine Waffenbesitzkarte erhalten und dementsprechend auch keine Waffe (und keine Munition) besitzen dürfen". Ein schwerer Vorwurf, für den bei Hausdurchsuchungen bei allen Mitgliedern des Prüfungsausschusses Beweise gesucht wurden.
Hausdurchsuchungen rechtswidrig
Und die Mitglieder des Prüfungsausschusses wehrten sich juristisch. Mit Erfolg: Anfang Dezember 2023 beschloss das Landgericht Hamburg, dass die Hausdurchsuchung zumindest bei einem der damals Beschuldigten rechtswidrig war. Auch der Vorwurf, dass Philipp F. aufgrund eines Fehlverhaltens des Prüfungsausschusses zu seiner Waffe gekommen ist, wird nicht bestätigt. t-online berichtete damals exklusiv darüber. Die Begründung für das rechtswidrige Vorgehen der Staatsanwaltschaft: Laut Landgericht bestand gegen den Beschuldigten noch nicht einmal ein Anfangsverdacht der Falschbeurkundung. Es gab schließlich keine Anklage, die Ermittlungen wurden eingestellt.
Fazit
Gegen den Mitarbeiter der Waffenbehörde, der den Hinweis des Hanseatic Gun Club nicht weitergegeben hatte, wird weiter ermittelt. Doch selbst wenn er später angeklagt werden sollte, bleibt am Ende die Frage: Warum haben Polizei und andere Mitarbeiter der Waffenbehörde so viele Hinweise ignoriert, dass Philipp F. keine Waffe hätte besitzen dürfen? Eine Waffe, mit der er sechs Erwachsene und ein Ungeborenes im Bauch seiner Mutter tötete.
- Eigene Recherche
- Gespräche mit dem Hanseatic Gun Club
- Protokolle der Innenausschusssitzungen
- Beschluss des Landgerichtes (vorliegend)