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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kolonialismus in Deutschland "Die Abwehrhaltung von Bismarck-Fans ist bemerkenswert"
Über das koloniale Erbe Deutschlands wurde vor "Black Lives Matter" lange geschwiegen. Doch jetzt werden Statuen gestürzt und Straßen umbenannt. Was steckt dahinter? Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer hat eine Erklärung dafür.
Für den Hamburger Historiker Prof. Dr. Zimmerer ist der aktuelle Streit rund um die koloniale Vergangenheit Deutschlands ein zentraler Teil der Identitätsdebatte der Bundesrepublik.
Fest steht für den Globalhistoriker: Rassismus gibt es auch in Deutschland, und Kolonialismus spielt für dessen Verständnis eine wichtige Rolle. Zu lange wurden Verbrechen des Kolonialismus unter den Teppich gekehrt und historische Figuren verklärt, kritisiert Zimmerer.
Für viele in Deutschland ist es offenbar schwierig, eine kritische Distanz zur deutschen Geschichte einzunehmen. Männer wie Reichskanzler Bismarck oder Nobelpreisträger Robert Koch werden geehrt, ihr kontroverses Wirken ausgeblendet. Eine postkoloniale Aufarbeitung hat es bisher kaum gegeben – bis zur aktuellen "Black Lives Matter"-Bewegung. Doch warum ist die Debatte so emotional?
t-online.de: Wie beurteilen Sie die "Black Lives Matter"-Bewegung und was hat sie mit Kolonialismus zu tun?
Jürgen Zimmerer: Die "Black Lives Matter"-Bewegung hat sich – zumindest in Europa – erweitert in eine Debatte über Kolonialismus. Der Protest gegen Rassismus und die strukturellen Voraussetzungen dafür hat sich in den USA auf die Denkmäler der Konföderierten und die Geschichte der Sklaverei übertragen, in Großbritannien auf den Sklavenhandel und die Kolonialdenkmäler. Das hat dazu geführt, dass sich auch der Rest Europas mit Kolonialismus befasste.
Denn der gegenwärtige Rassismus ist historisch gewachsen – und Kolonialismus war eine der Grundlagen dafür. Aktivistinnen und Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben seit Jahren auf das koloniale Erbe hingewiesen. Dass wir das jetzt auch in Deutschland breit diskutieren, ist ein Verdienst der "Black Lives Matter" Bewegung. Es ist eine Leerstelle in unserer Geschichtsaufarbeitung, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Dass die Bundesrepublik keinen Rassismus gekannt hätte, ist eine ihrer großen Lebenslügen.
Sie haben auf Twitter User aufgerufen, Orte in deutschen Städten mit kolonialem Bezug zu melden. Was ist dabei herausgekommen?
Darauf hat es eine erstaunlich hohe Resonanz gegeben, was darauf hinweist, dass an vielen Orten koloniale Denkmäler und Erinnerungsorte sind. Auch wenn man sie oft gar nicht im Blick hat. Es ist gleichzeitig auch deutlich geworden, dass wir kein Verzeichnis haben, keine umfassenden Studien. Das wiederum ist ein Reflex dieser Vernachlässigung des kolonialen Erbes. Twitter ist ja nur ein sehr spontanes Medium, das sollte man jetzt systematisch unternehmen.
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Am Beispiel der umstrittenen Mohrenstraße in Berlin: Wie könnte eine angemessene Aufarbeitung aussehen?
Ich bin der Meinung, dass die Umbenennung überfällig ist. Unabhängig davon, wie die ursprüngliche Intention zum Zeitpunkt der Benennung war. Es ist einfach mittlerweile ein Begriff, der als diskriminierend wahrgenommen wird. Deshalb ist es wichtig, dass so eine Umbenennung kommt. Ich bin der Meinung, dass man sie möglichst bezugsnah umbenennt. Das heißt, den Kontext beibehält. Deshalb finde ich die Idee, sie nach dem schwarzen Philosoph Anton Wilhelm Amo-Straße umzubenennen sehr einsichtig.
Auch Bismarcks Rolle in der deutschen Kolonialpolitik wird immer wieder hinterfragt. Seine Statue in Hamburg wurde zuletzt mit roter Farbe beschmiert. Warum reden wir noch nicht über Bismarck-Straßen?
Ich bin seit Wochen nur noch beschäftigt mit der Bismarck-Statue, seit ich im ARD-Morgenmagazin gesagt habe, dass die Statue auch ein Kolonialdenkmal ist. Die Reaktionen darauf waren überwältigend – im Positiven wie im Negativen. Von daher habe ich gar nicht Zeit gehabt, über die Straßen nachzudenken. Es sollte auch nicht ich sein, der das entscheidet, sondern ein breiter zivilgesellschaftlicher Prozess unter besonderer Beteiligung der am Kolonialismus Betroffenen.
Die Abwehrhaltung, die Otto-von-Bismarck-Fans – das ist schon sehr bemerkenswert für eine bundesdeutsche Gesellschaft nach 70 Jahren Demokratie, einen monarchistischen Adeligen, der Deutschland nur über drei Kriege einigte, die SPD und die Katholiken verfolgte und das Kolonialreich gründete, so zu verteidigen. Es scheint in Deutschland Kreise zu geben, die weit über die AfD hinausgehen und unbedingt eine positive Identifikation mit der Geschichte haben wollen und die Rolle des Kaiserreichs für die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ignorieren.
Manche sagen, wir hätten zu hohe moralische Ansprüche an die Figuren der Vergangenheit. Sind wir zu streng mit der Geschichte?
Es geht um die Einschätzung ihrer Vorbildfunktion heute. Welche moralischen Ansprüche sollen wir denn übernehmen – die von 1914 oder von 1942? Die Mörder von Ausschwitz hatten bestimmt andere Ansprüche, als wir. Sie beurteilen wir ja auch nach heutigen Vorstellungen. Das nennt man Lernen aus der Geschichte. Ich bin dafür, jede historische Figur zu historisieren. Etwa Bismarck: Der wird von seinen Fans gerade enthistorisiert und als Heilsbringer verehrt. Er wird reduziert auf den Einiger Deutschlands, er war aber auch viel mehr. Auch das Robert Koch-Institut müsste drüber nachdenken, ob es sich einen neuen Namen gibt. Das heißt ja nicht, dass man Robert Koch nicht in seinen positiven und negativen Seiten darstellt. Er taugt nur auf Grund seiner Tätigkeiten insbesondere seiner Experimente am Menschen in den Kolonien nicht als Namensgeber und Vorbild für das zentrale Bundesinstitut für Infektionskrankheiten.
Welche Bedeutung haben Neusetzungen und Umbenennungen?
Neusetzungen von Denkmälern erfolgen immer nach den Maßstäben des Jetzt, weil eine solche Ehrung ein Akt der Gegenwart ist. Der öffentliche Raum dient in unserer Gesellschaft als Gedenkraum und dazu, uns über unsere Werte zu verständigen, indem wir Vorbilder setzen. Doch wir reden da über ganz große Verständigungsdiskurse, was diese Republik seit 1989 überhaupt sein will. Jetzt kommen Leute wie die Teilnehmer der "Black Lives Matter"-Bewegung, und auch sie fordern ein, mitzureden, was deutsche Identität ist. Und das empfinden manche offenbar buchstäblich als Majestätsbeleidigung.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person: Prof. Dr. Jürgen Zimmerer ist Leiter des Projektverbunds "Forschungsstelle Hamburgs (post-) koloniales Erbe" an der Universität Hamburg.