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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Manche suchen ihre Koffer seit Wochen Wegen Gepäck-Chaos: Hamburger Flughafen reaktiviert Alt-Terminal
Frust, Erschöpfung und langes Suchen: Das erleben derzeit viele Reisende am Hamburger Flughafen. Gestrandetes Gepäck sprengt mittlerweile die Lager.
"Bitte beachten Sie, dass Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt bleiben darf", schallt es am Freitagmittag aus den Lautsprechern in der Gepäckhalle des Hamburg Airport. Eine skurrile Situation, denn seit Wochen stehen zwischen den Fließbändern ganze Reihen von Gepäckstücken, die irgendwo auf der Reise ihrer Besitzer zurückgeblieben sind. Neben Koffern stehen dort auch Kinderwagen, Rollatoren und ein Surfbrett. Vereinzelt schlendern Suchende durch die Kofferreihen: genervt, müde und teilweise ohne Hoffnung.
In Hamburg sind die Lager für gestrandetes Gepäck voll. "Wir haben es derzeit mit einer hohen dreistelligen Zahl an Koffern zu tun", sagt Qualitätsmanager Florian Schweyer vom Flughafen-Dienstleister AHS. Das verspätet angekommene, sogenannte Rush-Gepäck wird deshalb auch im ehemaligen Terminal 1, heute Terminal Tango, gelagert. Seit drei Wochen etwa gibt es das Zusatzlager, wie t-online erfuhr.
Hamburg: Reisenden wird angeboten, ihr Gepäck am Flughafen zu suchen
Da das Flugvolumen laut AHS so rapide angestiegen ist und die Masse an als verloren gegangenem Gepäck unplanbar gewesen sei, wird den Reisenden teilweise angeboten, ihr Gepäck selbst abzuholen. Das geht schneller, anstatt es sich von einem Kurierdienst bringen zu lassen. Die Suche am Flughafen verläuft aber nicht für alle erfolgreich. t-online sprach mit mehreren Reisenden, die teils seit Wochen auf ihren Koffer warten.
Unter den Suchenden sind auch viele Menschen aus dem Ausland, die in Hamburg nur zu Besuch sind. Eine von ihnen ist Jackie (76) aus Wisconsin (USA). Sie kam am Dienstag über Amsterdam aus Chicago. Zum vierten Mal ist sie schon am Flughafen, um ihren Koffer zu finden. Wo er ist, ist unklar. Am Telefon wurde ihr Hamburg gesagt, die App der Airline Delta sagt Amsterdam. Nach einer halben Stunde bricht sie wieder ab. Sie geht nun neue Klamotten kaufen, möchte nicht mehr jeden Abend im Hotelzimmer per Hand waschen. Am 30. Juni steht der Rückflug an.
Manche suchen ihre Koffer seit Wochen
Ein junger Mann aus Brasilien sucht schon seit zwei Wochen nach seinem Koffer, war auch bereits mehrfach zum Suchen hier. "Keine Spur", sagt er. Er studiert in Hamburg, viele Bücher muss er sich wohl neu anschaffen. Auf die Frage, wie er mit der Situation umgehe, sagt er in sarkastischem Tonfall: "H&M." Ein paar Meter weiter sucht ein weiterer junger Mann seinen Koffer. "Ich möchte lieber nichts sagen, bin Flugbegleiter", sagt er halblaut.
"Derzeit haben wir etwa fünfmal so viel Gepäck wie in Normalzeiten, das verspätet ankommt", berichtet Schweyer von AHS. Seine Firma übernimmt für viele Fluggesellschaften den sogenannten "Lost & Found"-Service, also die Auffindung von verloren gegangenen Gepäckstücken. "Zu viele Zahnräder greifen derzeit nicht ineinander", sagt er. Für das Gepäck-Handling sind Airlines und ihre Dienstleister verantwortlich, dabei aber auch vom Bodenpersonal der Flughäfen abhängig.
Europäischer Flugverkehr ist außer Tritt geraten
Zu diesen Zahnrädern gehören neben Gepäckdienstleistern wie AHS auch die Flughafenbetreiber, Airlines, Bodenpersonal und die Flugsicherung. "Wenn irgendwo eine Verzögerung entsteht, kommt schnell alles außer Tritt", sagt Schweyer. Diese Probleme bekommen Flugreisende gerade in ganz Europa zu spüren. Viele Flüge müssen aufgrund von Personalmangel gestrichen werden, aber auch an den Sicherheitskontrollen kommt es zu großen Verzögerungen. Hinzu kommt das Chaos mit dem Gepäck.
"Passagiere können sich schneller bewegen als das Gepäck", versucht Schweyer die Probleme zu erklären. Vor allem nicht direkte Flugverbindungen mit kurzen Umsteigezeiten sind eine Gefahrenquelle, als Reisender sein Gepäck für längere Zeit zu verlieren. An vielen Flughäfen in ganz Europa kommt die Gepäckabfertigung einfach nicht mehr hinterher. "Davon sind eigentlich alle mehr oder weniger betroffen, es gibt keinen Hotspot", sagt Schweyer.
Sicherheitsmitarbeiter: "Beschimpft und beleidigt wurde ich schon"
"Wie soll die Stimmung schon sein", sagt ein Sicherheitsmitarbeiter in Hamburg zu t-online. "Bescheiden. Beschimpft und beleidigt wurde ich schon, aber ich verstehe den Frust der Leute ja. Aber was soll ich denn machen?" Nur wenige finden ihren Koffer auf Anhieb. Einer ist Joel Murphy aus Florida, der am Donnerstagabend aus Miami über Paris für Geschäftstermine nach Hamburg kam. Er findet seinen Koffer nach kurzer Suche. "Die haben mich sofort an den richtigen Ort geschickt", sagt er freudestrahlend. "Aber das ist doch verrückt, was hier abgeht."
Verpasst ein Koffer den Flieger, in dem sein Besitzer sitzt, versuchen "Lost & Found"-Dienstleister wie AHS, das Gepäckstück schnellstmöglich zu seinem Zielort zu bekommen. "Das muss nicht zwangsläufig auf derselben Route passieren, manche Verbindungen gibt es ja nur alle paar Tage", erklärt Schweyer.
Die meisten Airlines nehmen Rush-Gepäck von anderen Airlines mit, erklärt Schweyer. "Nur einige Gesellschaften, die nicht Mitglied der IATA sind, machen ihre eigenen Regeln und nehmen Gepäck nicht mit." Die IATA ist der Dachverband der Airlines, zu dem alle großen Airlines gehören. Billigflieger wie Ryanair oder Easyjet sind jedoch oft nicht Mitglied.
Gepäckdienstleister: Haben schon 500 bis 600 Leute eingestellt
Meist liegt der Grund für zurückgebliebenes Gepäck beim mangelndem Personal: "Wir haben dieses Jahr schon 500 bis 600 Leute eingestellt. Das reicht leider noch nicht, aber die Bewerber fehlen." Durch notwendige Zuverlässigkeitsüberprüfungen dauere es noch länger, neue Mitarbeiter einsetzen zu können. Mancher Koffer bleibt aber auch stehen, weil ein Dutzend Haarspraydosen oder verbotene Powerbanks eine Mitnahme verhindern.
Dass die Probleme europaweit und auf allen Ebenen stattfinden, berichten auch Airlines wie Lufthansa oder Eurowings auf Anfrage von t-online. Viele Reisende, zu wenig Personal, Krankheitsausfälle – so lautet der Tenor. Überall werde im Rekordtempo Personal eingestellt, sagt Eurowings. Auf die Frage, wann es besser werden könnte, gibt es zunächst keine Antworten.
Experte Schweyer hat für alle Reisenden einen Tipp: Wer außerhalb der Tagesrandzeiten mit Direktflügen unterwegs ist, geht von vornherein ein geringeres Risiko ein. Hilfreich seien außerdem eindeutige Erkennungsmerkmale wie knallige Farben oder große Aufkleber. "So kann der Koffer schneller identifiziert werden, wenn er doch verloren geht. Alles, was abgerissen werden kann, beispielsweise Geschenkband, ist nicht geeignet."
- Eigene Recherche vor Ort
- Gespräch mit Florian Schweyer von AHS
- Anfrage beim Flughafen Hamburg
- Schriftliche Anfragen bei Lufthansa und Eurowings