Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.9. November Vor 34 Jahren fiel die Mauer – Na und?
Der 9. November ist in vielerlei Hinsicht historisch für Deutschland. Ein Ereignis gerät dabei in den Hintergrund. Warum es nicht egal ist, dass vor 34 Jahren die Mauer fiel.
Heute ist der 9. November. Es ist ein Jahrestag, an dem sich gleich mehrere dramatische Ereignisse ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt haben: Sowohl die gescheiterte Märzrevolution 1848, der Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 als auch die Reichspogromnacht 1938 und nicht zuletzt der Mauerfall zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland von 1989 jähren sich an diesem Tag.
Der Krieg in Nahost und die antisemitischen Vorfälle in unserem Land überschatten im Moment vieles. Da ist es verständlich, dass der 85. Gedenktag der Reichspogromnacht alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und doch: Bedauerlicherweise geht in diesem Zusammenhang der Jahrestag des Mauerfalls ein wenig unter. Ein Jahrestag, der uns doch an den Sieg von Demokratie, Freiheit und Zusammenhalt erinnern sollte.
Die deutsch-deutsche Einheit ist keine Selbstverständlichkeit
Es ist nicht nur schade, dass der Mauerfall beinahe vergessen scheint. Es ist auch bedenklich, da damit ein einschneidendes Ereignis im Leben von 16 Millionen Menschen, die damals in der DDR lebten, übergangen wird.
Die Menschen in der DDR haben sich ihre Freiheit friedlich erkämpft und mussten sich schließlich mit vielen einschneidenden Veränderungen abfinden. Dieselben Menschen, die gegen die Diktatur auf die Straße gegangen sind, mussten sich später häufig beruflich neu orientieren. Manche verließen ihre Heimat und fingen im unbekannten Westen ganz von vorne an.
Wir müssen uns auf Augenhöhe begegnen
Mehr als 30 Jahre nach der Wende müssen wir üben, uns in Deutschland auf Augenhöhe zu begegnen. Das ist leider nicht immer der Fall. Für viele Menschen aus Westdeutschland sind die sogenannten "neuen Bundesländer" ein blinder Fleck auf der Landkarte. Pauschalisierende Aussagen wie "Da ist doch eh nichts" oder "Da sind doch alle rechts" sind von Westdeutschen viel zu oft zu hören.
Erst kürzlich hat mein Kollege Tom Schmidtgen über seine Erfahrungen als junger Ostdeutscher auf t-online geschrieben und festgestellt: "Alle Reibungen haben mich zum Ossi gemacht. Der Westen hat mich zum Ossi gemacht." (Hier lesen Sie mehr davon.)
Mit dieser These ist Tom Schmidtgen nicht allein. Erst dieses Frühjahr hat der Professor Dirk Oschmann das provokante Buch "Der Osten – eine westdeutsche Erfindung" veröffentlicht, das schnell zum Bestseller wurde.
Magdeburg, Chemnitz und Dresden sind zukunftsweisend
Bei allen Negativschlagzeilen wird viel zu schnell übersehen, welch beeindruckende Entwicklungen im Osten stattfinden:
Tesla, Intel, Infineon, Bosch – all die großen Namen sind mittlerweile in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg zu Hause. Das ist unter anderem den hervorragenden Universitäten und Hochschulen direkt um die Ecke zu verdanken, die den Nachwuchs ausbilden.
Katharina Weißig und Corvig Groß sorgen mit ihrem Magdeburger Start-up "Periodically" dafür, dass kostenlose Menstruationsprodukte in öffentlichen Toiletten bald Standard werden könnten. Aus Chemnitz – der Kulturhauptstadt Europas 2025 – kommt das Unternehmen "Staffbase". Laut Eigenaussage ist es die "führende Plattform für interne Unternehmenskommunikation". 2022 wurde "Staffbase" mit einer Milliarde Euro bewertet – die Firma zählt zu den wenigen "Einhörnern" der deutschen Start-up-Branche.
- Milliardeninvestition: US-Konzern Intel baut Chipfabrik in Magdeburg
- Scholz: Ostdeutschland kann "führende Rolle einnehmen"
Das kann sich der Westen vom Osten abschauen
Wie eine Erhebung 2019 ergeben hat, sind es überdurchschnittlich viele ostdeutsche Frauen, die erfolgreich Karriere machen. Für den Ostbeauftragten der Bundesregierung Carsten Schneider (SPD) war es letzten Dienstag deswegen ein Leichtes, ein Event für Frauen in Führungspositionen zu organisieren, um die Vernetzung untereinander zu fördern.
Den Menschen in Westdeutschland sei deshalb ans Herz gelegt, auch einmal die ostdeutsche Perspektive einzunehmen und von den Mitbürgerinnen im Osten zu lernen. Der Jahrestag des Mauerfalls kann uns daran erinnern.
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Der Mauerfall erinnert uns an Einheit und Freiheit
Nein, es ist nicht irrelevant, dass die Mauer vor 34 Jahren gefallen ist. Dieses Ereignis hat dazu geführt, dass wir heute in einem geeinten, freien und demokratischen Deutschland leben.
Fast wäre der 9. November zum Tag der Deutschen Einheit gekürt worden – würde er nicht auch an dunkle Ereignisse in der deutschen Geschichte erinnern. Wir laufen Gefahr, relevante Themen gegeneinander auszuspielen, wenn wir es nicht schaffen, ihnen gleichermaßen angemessene Aufmerksamkeit zu schenken.
Deutschland muss sich in Zusammenhalt üben
Der Mauerfall sollte uns Erinnerung sein, wie zerrissene Familien zusammenkommen, wie sich getrennte Gesellschaften vereinen und nicht zuletzt, wie aus Diktaturen Demokratien werden.
Bei allen Negativschlagzeilen dürfen wir nicht vergessen, was unser Land vereint: der gemeinsame, unaufhaltsame Wunsch nach Frieden, Freiheit und gemeinsamem Zusammenleben. Anstatt aufeinander herabzuschauen, sollte der Jahrestag des Mauerfalls uns einladen, aufeinander zuzugehen.
Anmerkung der Redaktion: Geboren und aufgewachsen in Halle (Saale) hat die Autorin vor drei Jahren das "N5 Symposium" mitgegründet. Am 17. und 18. November in Erfurt kommen Führungskräfte und Vorbilder mit Bezug zu Ostdeutschland zusammen.
- Dirk Oschmann: "Der Osten – eine westdeutsche Erfindung. Wie die Konstruktion des Ostens unsere Gesellschaft spaltet" Ullstein-Verlag 2023
- periodically.de: "Bisher erreicht – über 500 fortschrittliche Unternehmen"
- rbb24.de: "Ostfrauen – Wege zur Macht", Studie von Hoferichter & Jacobs von 2019
- zukunftszentrum-halle.de: "Wir wollen Zukunft. Gemeinsam gestalten."
- n5symposium.de: "Programm 2023"