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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Drogen und Gewalt "Wir haben Angst" – Zwei Männer kämpfen für St. Georg
![Stefan Wiedemeyer und Tobias Stempien in St. Georg Stefan Wiedemeyer und Tobias Stempien in St. Georg](https://images.t-online.de/2025/02/L21BZSj-9DEw/0x320:4000x2250/fit-in/1920x0/image.jpg)
Gewalt, Drogen, Prostitution – Angst: Für viele Bewohner des Hamburger Stadtteils St. Georg bedeuten diese Dinge Alltag. Zwei Männer wollen das ändern – und kämpfen für ihr Zuhause.
Männer mit schwarzen Kapuzen stehen in den Seitenstraßen, die zum Hansaplatz führen. Die Hände stecken tief in den Jackentaschen, die Blicke scannen die Umgebung – womöglich nach potenziellen Kunden. Den Anwohnern Stefan Wiedemeyer und Tobias Stempien zufolge gehören Drogendeals hier zum Alltag. Genauso wie Suchtkranke, die orientierungslos und teilweise aggressiv durch die Straßen streifen – die Straßen, die sich rund um ihr Zuhause befinden. "Wir haben Angst", sagt der 41-jährige Stempien. "Besonders um unsere Kinder."
Wiedemeyer und Stempien gründeten deshalb die Bürgerinitiative St. Georg. Sie kämpfen für mehr Sicherheit und Lebensqualität vor der eigenen Haustür. t-online hat sich mit den beiden zu einem Rundgang durch St. Georg getroffen und genau dort hingesehen, wo die Politik laut den beiden Anwohnern die Augen verschließt.
St. Georg: Kriminalität steigt
Startpunkt ist das Café Curiousa am Hansaplatz – dem Ort, an dem erst kürzlich ein 15-Jähriger zusammengeschlagen wurde, nachdem er selbst im Auftrag auf einen anderen Mann geschossen haben soll. Die Gesichter von Wiedemeyer und Stempien bleiben gefasst, wenn sie über den Vorfall sprechen – nicht aus fehlendem Mitgefühl, wie sie betonen. Doch Ereignisse wie diese gebe es in ihrer Nachbarschaft immer wieder.
Auch die Statistiken belegen: St. Georg zählt zu den wenigen Stadtteilen in Hamburg, in denen die Gewaltkriminalität seit geraumer Zeit zunimmt. Die Zahl von gefährlichen Körperverletzungen, Raub- und Drogendelikten steigt laut der Kriminalstatistik 2024. Besonders Crack wird demnach in St. Georg häufig konsumiert.
"Die Suchtproblematik von ganz Hamburg wird auf den Rücken der Bewohner St. Georgs ausgetragen", sagt Wiedemeyer. Er und Stempien kritisieren die Zentralisierung des Drogenproblems auf St. Georg. Das sei insbesondere so, seitdem Abhängige vom Hauptbahnhof durch vermehrte Kontrollen verdrängt und auf die Umgebung rund um das Drob Inn und die Wohngebiete in St. Georg ausweichen würden.
Kita schützt sich mit Stacheldraht
Wiedemeyer lebt bereits seit 20 Jahren in St. Georg, dem "Herzen von Hamburg", wie er es nennt, unweit von seiner Mutter und seiner Oma. Auch Stempien wohnt seit mehr als zehn Jahren hier. "St. Georg ist unser Zuhause, die Heimat unserer Kinder", sagt der 41-Jährige. "Das wollen wir nicht einfach so hergeben." Die gemeinsame Initiative ist ein Versuch, um für das Zuhause zu kämpfen – womöglich ein letzter.
Vom Hansaplatz laufen Wiedemeyer und Stempien zielsicher Richtung Elbkinder-Kita in der Greifswalder Straße. Fotos der Kita gingen Ende vergangenen Jahres durch die Medien, denn: Um die Kinder vor Hinterlassenschaften von Suchtkranken wie Drogen und Spritzen zu schützen, ergriffen die Betreiber eine besondere Maßnahme – die beim Blick auf das Kita-Gelände auffällt. Vor Rutsche, Schaukeln und Büschen steht ein Gitterzaun, oberhalb wickelt sich dicker Nato-Stacheldraht um das Metall.
"Leider ist das ein absolut sinnvoller Schritt", sagt Wiedemeyer, der selbst Vater einer kleinen Tochter ist. Sein Blick wandert zu den Autos, die vor der Kita stehen. Am Boden kleben bräunliche Reste. Immer wieder komme es vor, dass Menschen dort ihr Geschäft verrichteten und in den Pflanzenbeeten ihre Drogen verbuddeln. Hier und da sind auch an diesem Tag kleine Kuhlen in der Erde zu entdecken.
AfD nutzt Bürgerinitiative für Wahlwerbung
In der gesamten Nachbarschaft sei eine andauernde Sorge zu spüren, sowohl bei Anwohnern als auch bei Gastronomen und Ladenbetreibern. Das hätten Gespräche gezeigt, die die beiden Männer seit Gründung der Initiative führen. Doch dieses verbreitete Gefühl von Unsicherheit könne weitreichende Folgen haben, fürchtet Wiedemeyer. "Erst kommt Angst, dann Wut und dann?", fragt er mit ernstem Blick. "Womöglich die Wahlentscheidung für eine rechte Partei."
Rechte dürften von der misslichen Lage in ihrer Nachbarschaft nicht profitieren, finden er und Stempien. St. Georg stehe für Vielfalt, und das solle so auch bleiben. Doch ein Blick auf die Webseite der AfD zeigt: Die Partei nutzt die Gründung der Bürgerinitiative St. Georg für Wahlwerbung.
Lange Reihe: Hauswände mit Kot beschmiert
Von der Kita geht es zur Langen Reihe. Schicke Restaurants, Bars und Wohnungen befinden sich hier in teils historischen Gebäuden. Die Straße ist weiter vom Hauptbahnhof und dem Drob Inn entfernt als etwa der Hansaplatz, und dennoch: "Anwohner erzählen uns, wie sie ihre Kinder hier morgens über Suchtkranke tragen müssen, die in Hauseingängen und auf Gehwegen liegen", sagt Stempien. Hauswände würden mit Kot beschmiert.
Ein junges Mädchen mit Hidschab sitzt auf einer Bank – darunter stehen aufgereiht sechs leere Flaschen hochprozentigen Alkohols. "Da hinten haben wir neulich eine lange Blutspur entdeckt", sagt Wiedemeyer und deutet auf einen Bürgersteig. Ursprung? Unbekannt.
Die beiden schlagen einen Weg Richtung Steindamm ein, laufen an einem umzäunten Spielplatz vorbei, der von Müll gesäumt wird. "Betreten für Erwachsenen nur in Begleitung von Kindern zulässig", heißt es auf einem Schild des Bezirksamts Mitte. Auf einem weiteren steht: "Kein Alkohol." Die beiden lachen freudlos. Maßnahmen wie diese würden den Ursprung nicht bekämpfen. Ebenso wie die bereits erhöhte Präsenz von Polizei und Sozialarbeitern, auch wenn sie darüber grundsätzlich froh seien.
Auf der Webseite der Initiative lautet die Forderung: "Fokussierung und konsequente Anwendung aller rechtsstaatlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung der ausufernden Drogenkriminalität in Sankt Georg." Von der Politik verlangen sie insbesondere, die Drogenproblematik nicht länger auf St. Georg zu zentralisieren.
Drob Inn: Zentrum der Sucht?
Am Steindamm angekommen, laufen die Männer an Obst- und Gemüseläden vorbei. Viele Früchte, die es hier zu kaufen gebe, seien sonst kaum irgendwo zu finden, sagt Stempien und klingt stolz. Sekunden später läuft eine Frau an ihm vorbei, das Haar steht wirr vom Kopf ab, die Augen sind starr in die Ferne gerichtet. "Scheiß Ficker", brüllt sie, ohne ihre Worte an jemanden Bestimmten zu richten. Sie kommt aus Richtung Drob Inn – dem Endpunkt des Rundgangs.
Rund 200 Menschen stehen in Grüppchen auf dem Platz vor der Beratungsstelle. Manche liegen am Boden. Es riecht nach Kot und Urin. Suchtkranke finden hier niedrigschwellige Hilfe – Unterstützung und sichere Räume für ihren Drogenkonsum. Wiedemeyer und Stempien sind überzeugt, dass die Menschen hier Hilfe brauchen und verdienen.
Doch auch sie, ihre Familien und Nachbarn bräuchten nun Unterstützung. "Wir wollen nicht zum Schutz unserer Familien unser Zuhause aufgeben", resümiert Stempien. Ihr Plan für die Zukunft: Die beiden wollen weiterhin Gespräche suchen und hoffen auf Hilfe aus der Politik – damit an die Stelle der Angst wieder Stolz treten könne, auf ein Zuhause in einer vielfältigen Nachbarschaft.
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