Hamburg HSV wehrt St. Paulis Machtanspruch ab
Die Entscheidung um die Vormachtstellung im Hamburger Fußball ist vertagt. Der HSV als historische Nummer eins war zwischenzeitlich im Niedergang begriffen und drohte vom Stadtteilverein FC St. Pauli vom Thron gejagt zu werden. Das 2:1 (0:1) am Freitag im Volksparkstadion hat diese Entwicklung zwar noch nicht umgekehrt, wohl aber gestoppt. Der HSV ist bis auf drei Punkte dran am Kiezclub, der das Hinspiel noch 3:2 gewonnen, sein Polster in der Tabelle aber verspielt hat. Hinter Darmstadt 98 ist St. Pauli nun Zweiter. Umso wichtiger für den HSV: Im Aufstiegsrennen zur Bundesliga hat die Truppe von Trainer Tim Walter wieder gute Karten.
"Wir haben 'ne Kiste Bier in der Kabine", beschrieb Walter den bescheidenen Party-Rahmen, um dann mitzuteilen: "Meine Jungs trinken ja nicht so viel." Also nahm er seinen Trainerstab in die Pflicht: "Da trinken wir eins mehr." Jubel erfüllte aber auch ohne Alkohol die HSV-Kabine. Da wollte sich St.-Pauli-Coach Timo Schultz nicht lumpen lassen. "Nachdem wir in den letzten Spielen häufiger erfolgreich sein und die Stadtmeisterschaft für uns in Anspruch nehmen durften, müssen wir heute auch mal dem Gegner gratulieren zum verdienten Sieg."
Die Stadtrivalen trennen nur noch drei Punkte. Vier Spieltage zuvor waren es noch neun. In diesem Zeitraum holte Schultz' Truppe nur zwei von zwölf möglichen Zählern. Geht St. Pauli die Puste aus, beginnen die Nerven zu flattern? "Wir werden auch nach diesem Spieltag immer noch auf einem der ersten beiden Plätze stehen", entgegnete Schultz. "Um unser Selbstvertrauen braucht man sich keine Sorgen zu machen." Die jüngste Sieglos-Serie lässt aber anderes vermuten. Fest steht: St. Pauli spielt nicht mehr so locker auf wie in den Vormonaten.
Die Achillesferse der Kiezkicker 2021/2022: die Auswärtsschwäche. Zu Hause überragend mit acht Siegen und einem Unentschieden sowie dem besten Wert aller Zweitligisten von 25 Punkten, auswärts nur drei Siege und zwölf Punkte - Mittelmaß. Dabei waren im Volksparkstadion gegen den HSV nur 2000 Fans zugelassen, darunter sogar 200 von St. Pauli. Die Kulisse kann die Braun-Weißen also nicht gehemmt haben.
Zudem: Zu Hause ist die Abwehr ausnehmend stark. Lediglich sieben Gegentore ließ sie bislang zu. Auswärts das komplette Gegenteil: Da gehören die Hamburger mit 20 Gegentreffern zu den abwehrschwächsten Teams der Liga. Dieser Gegensatz schreit geradezu nach Veränderung.
Dem HSV war zuvor in fünf Derbys (vier Niederlagen) kein Erfolg über St. Pauli gelungen. Vom Nachbarclub gedemütigt, von den eigenen Fans beschimpft bekamen die Profis Magie und Brisanz der Stadtduelle zu spüren. Da mutet der lang ersehnte Sieg wie eine Erlösung an. Vor allem für Fans, für die ein Derbysieg wichtiger als der Aufstieg ist.
Bei aller Freude im Umfeld gab sich Walter erstaunlich gelassen, ganz im Gegensatz zu seinem Starkstrom-Coaching am Spielfeldrand. Für eine neuerliche Verbalattacke an der Linie erhielt er bereits seine zweite Gelbe Karte in dieser Saison. Nach der vierten wird er für ein Spiel gesperrt. Walter: "Vielleicht hat der Schiedsrichter recht, wenn ich lautstark bin. Aber ich denke, dass ich immer respektvoll bin."
Eine halbe Stunde nach Spielende war der Puls des 46-Jährigen jedoch wieder im grünen Bereich. "Mehr als drei Punkte gibt es heute auch nicht", meinte er und stutzte den Derbysieg auf Normalmaß. "Wir haben nur ein Spiel gewonnen. Wir freuen uns über drei Punkte. Aber wir wissen auch, wo wir herkommen und woran wir weiter arbeiten müssen."
Rundum zufrieden konnte Walter nämlich nicht sein. In den ersten 30 Minuten hätte seine Elf deutlich in Führung gehen müssen. Aber wie so häufig herrschte vor des Gegners Kasten Fahrlässigkeit. Wie es geht, demonstrierte der FC St. Pauli: eine Chance, ein Tor - natürlich durch Torjäger Guido Burgstaller, sein 15. Erst Kapitän Sebastian Schonlau und Stürmer Bakéry Jatta drehten nach der Pause die Partie.
"Wir haben eine brutale Bereitschaft", versicherte Walter und nannte als Basistugenden: "Mutig im Ballbesitz und extrem aggressiv gegen den Ball." Diese Offensivpower, diese erzwungene Dominanz ließ den Rivalen nicht wie gewohnt in seine Abläufe kommen. "Wie haben nicht richtig ins Spiel gefunden", gab St. Paulis Mittelfeldakteur Marcel Hartel zu. "Wir hätten den Fans gerne einen Sieg geschenkt. Das ist traurig für uns, aber wir dürfen die Köpfe nun nicht hängen lassen."